Beim Miami Piano Festival erweisen sich Katz‘ vollständige Chopin-Nocturnes als Triumph
Ein Abend mit Musik von Frédéric Chopin und das Südflorida-Debüt des israelischen Pianisten Amir Katz lockten am Samstagabend ein großes Publikum ins Colony-Theater in Miami Beach. Es ist eine seltene Erfahrung, einen Pianisten alle 21 Nocturnes des polnischen Meisters an einem Abend spielen zu hören. (Vor kurzem hat Katz den gesamten Zyklus für Oehms Classics aufgenommen.) Ein derartiges Projekt besitzt unvermeidliche Fallstricke. Bei einem vollständigen Durchlauf der Stücke, die oft als Zugaben zum Konzert-Abschluss gespielt werden, können Elemente der Monotonie und der Mangel an musikalischer Vielfalt quälend wirken. Katz’ Konzert in der Entdeckungen-Reihe des Miami International Piano Festival allerdings war ein Triumph der kultivierten Kunstfertigkeit und der musikalischen Erkenntnis.
Der wettbewerbspreisgekrönte Pianist zählt Leon Fleisher, Karl Ulrich Schnabel und Murray Perahia zu seinen Lehrern. Katz’ Technik ist so gründlich und ausdrucksstark, dass sie nie die Aufmerksamkeit auf sich. Die melodischen Linien der rechten Hand waren sicher gesetzt, während der unterstützende Rhythmus der linken Hand sorgfältig und ohne übermäßige Betonung ausjustiert war. Katz war sich Chopins flüchtiger Veränderungen in Stimmung und Rhythmus bewusst. Unter seinen Fingern erwiesen sich plötzliche explosive Ausbrüche alles andere als nächtlich. Er erforschte den unverwechselbaren Charakter jedes Stücks und gestalte so einen Zyklus von bemerkenswerter Vielfalt.
Katz‘ freie Rubato-Verwendung griff dabei auf eine frühere Generation von Chopin-Interpreten zurück. In der Eröffnung, einer verträumten, vergeistigten Interpretation des Opus 9, Nr. 1 in b-Moll, war Katz’ Spiel von einem durchweg singenden Ton und eine erlesene Leichtigkeit des Anschlags geprägt. In das bekannte Es-Dur-Nocturne Nr. 2 brachte er bemerkenswerte Freiheit, ließ die vielfältigen Tempo-Abstufungen stets in lyrischen Bögen fließen. Davon setzten sich die beiden posthum veröffentlichten Nocturnes durch reine Schönheit und Empfindsamkeit der geschwungenen melodische Linie ab, die als maßvoller Abschluss des Konzerts gespielt wurden.
Katz betrachtet die Nocturnes als mehr als nur hübsche Salonstücke. Die g-Moll-Vignette sang frei von Trivialität in elegischen Tönen und der Abschluss des Es-Dur-Nocturnes, Opus 55, No.2 war frappierend. Mit stürmischer Kraft und Energie entluden sich einige Stücke bei ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit. Chopins gefühlstiefe Mittelteile und dramatischen Höhepunkte waren höchst aufgeladen. Liszts Erhabenheit war nicht weit entfernt, dennoch gab Katz plastisch das pianistische Belcanto wieder, das die Essenz so vieler Werke des Komponisten ausmacht. Auch in diesen Charakterstücken lassen sich oft polnische Tanzrhythmen heraushören. Katz entdeckte in mehreren Werken die graziösen Ursprünge, wo der Rhythmus plötzlich in den Mittelpunkt rückt. Mit der Leichtigkeit einer Barkarole und einem Hauch von Poesie erklangen sie in höchst sanglicher Manier, selbst wenn das Tragische unter der Oberfläche lauerte (wie im e-Moll-Nocturne, Opus 72, Nr. 1). In der Tat scheint Katz den gesamten Zyklus als ein großes Drama zu begreifen, eine Reise durch Freude, Schönheit und Verzweiflung. Keine zwei Nocturnes glichen einander, die feinen Nuancen und das weite dynamische Spektrum bereichern den gesamten Zyklus mit Farben und Emotionen. Katz zeigte einen beeindruckenden Sinn für künstlerischen Wagemut, furchtlos lenkte er die Musik an bestehenden künstlerischen Konventionen vorbei. Ein Großteil des Zyklus entwickelte sich frisch und bewegend – eine bemerkenswerte künstlerische Leistung.
Weise lehnte Katz es ab, trotz der stehenden, jubelnden Ovationen eine Zugabe zu spielen. Nach einem derartig kühnen Programm hätte jede zusätzliche Darbietung enttäuschend wirken müssen.