Amir Katz ist ein interessanter Chopin-Interpret. Er ist ein sensibler und reifer Künstler. Seine Reflexionen über jede einzelne der Nocturnes sind stets durchdacht. Er besitzt einen eleganten Anschlag und gestaltet die Stimmführung der Akkorde mit Seelenwärme.
Noël Coward behauptete, seine Anweisungen für Schauspieler seien, ihre Sätze zu sprechen und nicht mit dem Mobiliar zusammenzustoßen. Katz ist der gleiche Typ Pianist: Jede Geste ist vollständig durchdacht und fügt sich ins Ganze. Sein Chopin ist höchst rhapsodisch, mit einem starken erzählerischen Moment. Während ich seine Aufnahme wieder und wieder hörte, drangen mit jedem der Nocturnes bestimmte Bilder in meinen Kopf. Einer meiner Englisch-Professoren, Walter Jackson Bate, sagte, Lyrik-Kritik sei wie das Herausholen der Zahnarztutensilien. Auch Musikkritik kann so sein, eine Frage von schneller oder langsamer, lauter oder leiser. Katz’s Interpretationen sind so bedeutungsvoll, dass sie eine subjektivere Herangehensweise verlangen. Einige Pianisten haben einen allgemeinen Ansatz zu jedem Nocturne, eine Art Einer-Für-Alle, so, als ob Chopin eine pianistische Produktlinie mit dem Markennamen Nocturne entworfen hätte. Nichts davon bei Katz: Seine Nocturnes sind von ihrer je eigenen Bildlichkeit und Gefühl durchdrungen.
Das erste Nocturne besitzt ein lebendiges Tempo, das das Bild einer Sommerromanze hervorruft. Nr. 2 ist nachdenklich, sogar philosophisch. Ein fragender Klang mit unruhigem Unterton erscheint in Nr. 3. Einsamkeit ist das Gefühl von Nr. 4, erregt sein B-Teil. In Nocturne 5 erkennen wir eine klagende Qualität, wie die Verletzlichkeit des Geliebten. Nr. 6 malt eine häusliche Szene, die mit einer Ungewissheit im B-Teil endet. Nr. 7 deutet im Bass schwelende Emotionen an, was zu einem kurzen Ausbruch führt. Die Melodie von Nr. 8 schwebt über der Begleitung wie ein Traum. Nr. 9 offenbart einen Ausdruck von Schüchternheit oder vielleicht Berührungsangst. Nr. 10 deutet auf eines der Ballerina- Gemälde von Degas hin, wie es sich für ein Stück gehört, dass in Les Sylphides verwendet wurde. Nr. 11 ist vom Schmerz der Einsamkeit geprägt. Nr. 12 bietet Klänge sanften Lachens und herzlicher Freundschaft. Die Basslinie von Nr. 13 erinnert an den Trauermarsch der zweiten Sonate. Nr. 14 ist ein Ausdruck von Zärtlichkeit, erweitert durch körperliche Sehnsucht. Die Melodie von Nr. 15 klingt zögernd und fragend, unbeständig im B-Teil. Nr. 16 zeigt einen schwindelerregenden Liebes-Aspekt. In Nr. 17 werden wir in ein romantisches Intermezzo mit dem Hauch einer Tragödie hineingezogen. Nr. 18 ist, wie es sich für ein Spätwerk gehört, voll von Weltschmerz. Die drei posthumen Nocturnes teilen sich eine einheitliche interpretative Haltung; sie sind dunkel und brütend, sogar düster, mit einem anschaulichen Sinn für Atmosphäre.
Statt Ausführungen zur Musik gibt es im Booklet ein aufschlussreiches Interview mit dem Künstler. Katz hat Bedeutendes über die Nocturnes zu sagen. Diese Stücke gehören zu den aufschlussreichsten Bewährungsproben für das Gespür eines Pianisten in Bezug auf Stil und die Suche nach Bedeutung. Katz zeigt hier, dass er ein Pianist ist, mit dem man rechnen muss. Wenn man, wie ich, die Nocturnes unendlich faszinierend findet, dann dürfte sich eine Reise mit Katz lohnen.